Das Geschenk der Entschleunigung

In den 80er Jahren habe ich viel fotografiert. Den belichteten Film habe ich zum Entwickeln gebracht und Abzüge bestellt. Dann habe ich meine Freundin zum Tee eingeladen und wir haben gemeinsam unsere Urlaubsfotos angeschaut. Das war etwas ganz Besonderes, fast wie Weihnachten. Dann hat sie sich überlegt, von welchen sie Abzüge möchte. Ich ging dann wieder ins Fotogeschäft und gab eine Nachbestellung in Auftrag. Nachdem ich sie abgeholt hatte, lud ich wieder meine Freundin zum Tee ein und überreichte ihr die Abzüge, die wir dann nochmal zusammen ansahen, während wir Geschichten über den Urlaub teilten.

In den 80er Jahren hörte ich auch gerne Schallplatten.

Ich überlegte mir gut, auf welches Lied oder welche LP ich jetzt besonders Lust hatte, legte die Platte auf und freute mich auf das leise Geräusch, wenn die Nadel auf die Platte herabsank. Dann hörte ich Musik, ohne irgendetwas anderes dabei zu tun. Manchmal sang ich mit oder tanzte dazu. Es gab nichts anderes, was mich so sehr in meine Mitte bringen, mich trösten und meine Gefühle beruhigen konnte.

Als die ersten CDs auf den Markt kamen, hoffte ich, das sei nur eine vorübergehende Erscheinung. Denn eine CD klang in meinen Ohren zu glatt und perfekt. Die Zwischentöne fehlten, die Schwingung fehlte, die die Schallplatte mit ihrer analogen Aufzeichnungs- und Abspielmethode transportieren konnte. Beim heute üblichen Herunterladen von ganzen Alben fehlen sogar noch die Fotos und Songtexte.

Computer und das Internet habe ich von Anfang an gemocht, aber ich nutzte es nur dann, wenn ich es brauchte. Um eine Mail zu schreiben oder bestimmte Informationen zu bekommen. Nicht den ganzen Tag.

Heute kommen selbst Computer schon aus der Mode,

alles läuft über das Smartphone. Denn das können wir ständig mit uns herumtragen. Wir sind nicht nur rund um die Uhr telefonisch erreichbar, es gibt auch unzählige Whatsapp Gruppen, wo wir Fotos, Videos, kurzfristige Terminänderungen und mehr miteinander teilen. Das Internet ist ebenfalls ständig bei uns, und alles, was wir gerade fotografiert haben, können wir im nächsten Moment unseren 500 facebook-Freunden zeigen. Und im nächsten Moment über Kopfhörer unser Lieblingslied hören. Alles geht viel schneller. Selbst Filme, die heutzutage produziert werden, sind viel schneller geschnitten als in den 80er-Jahren. Es wird argumentiert, daß die Aufmerksamkeitsspanne gesunken sei und man müsse immer mehr, schneller und bunter werden, um überhaupt gehört oder gesehen zu werden. Angebote müssen knackig und kurz formuliert werden, längere Texte zu lesen wird den Menschen von heute kaum noch zugetraut.

Uff.

Ich finde es schwierig, mich dieser kollektiv steigenden Geschwindigkeit, die auch mit Oberflächlichkeit einhergeht, zu entziehen. Was haben Menschen früher getan? Sie haben gewartet, sie haben vertraut, und wenn es eine telefonische Abmachung gab, sich in drei Tagen zu treffen, wurde diese eingehalten. Wir haben früher viel mehr Unsicherheit ausgehalten. Stille ausgehalten. Warten ausgehalten. Wenn das Auto nicht ansprang, fragte ich Menschen, die gerade vorbeikamen, und sie freuten sich, zu helfen. Ich wollte lange Zeit kein Handy, weil ich gerne mit spiritueller Anleitung unterwegs war und es so spannend fand, welche „Zufälle“ mir begegneten, wenn ich unterwegs war. Ich wollte lieber vertrauend und seelengeführt unterwegs sein, als ständig die Google Maps zur Hand zu haben und jederzeit jemanden anrufen zu können. Und ich mochte das Rascheln von Stadtplänen und Landkarten, das Überlegen, welche Strecke ich fahre, das Aufschreiben, wo ich wie abbiegen mußte.

Kürzlich erzählte eine meiner spirituellen Lehrerinnen, wie sie das Göttliche fragte: „Wie kann ich weniger Fehler machen?“ Das Göttliche antwortete: „Werde langsamer.“

Ich selbst habe mir vorgenommen, langsamer und bewußter zu sprechen. Meinem Gesprächspartner zuzutrauen, daß er meine Langsamkeit aushält. Wann immer ich spirituelle Übungen mache und in einer hohen Schwingung bin, chante ich sehr langsam. Ganz von allein. Und die Schwingung hat Zeit, sich auszubreiten und meinen ganzen Körper zu erfassen, zu reinigen, ins Gleichgewicht zu bringen. Ich habe mir vorgenommen, viel früher und vehementer stop zu sagen, wenn mir etwas zu viel wird. Oder einfach zu gehen. Ich schreibe auch täglich Tao Kalligafien. An meinem Schreiben kann ich erkennen, wie sehr ich in meiner Mitte und mit meinem Körper verbunden bin. Denn wenn ich das nicht bin, zittert der Pinsel und die Kalligrafien haben keine guten Proportionen.

Wenn wir anderen Menschen dienen und helfen wollen,

ist es wichtig, daß wir so gut wie möglich selbst genährt sind und in unserer Mitte ruhen. Es ist wichtig, daß wir innerlich die Ruhe, Zeit und Geduld aufbringen, anderen mit ehrlichem Mitgefühl zuzuhören und ihnen Raum zu geben. Um wirklich verstehen zu können, wie es ihnen geht und was sie belastet. Oft reicht das schon aus, damit die Herausforderungen der anderen Person sich transformieren.

Ich habe beschlossen, das „mehr, größer, schneller“ nicht mehr als meinen persönlichen Maßstab anzuerkennen, und bewußt darauf zu achten, ob ich wieder in Resonanz bin mit der Geschwindigkeit des Massenbewußtseins. „Weniger, tiefer, ruhiger, geerdeter, langsamer“ ist so viel gesünder. Nicht nur für mich selbst, sondern auch für die Menschen, die mich umgeben. Das, was wir sind, wenn wir einfach nur wir selbst sind und in uns ruhen, ist völlig ausreichend. Wenn wir eine Verbindung mit dem Himmel haben, fällt es uns in diesem Zustand viel leichter, seine Botschaften wahrzunehmen. Die Signale unseres Körpers sowie unsere Intuition haben so auch wieder eine Chance, uns zu erreichen.

Ich lege meine Angst ab, nicht zu genügen oder den Anschluß zu verlieren –

den Anschluß woran eigentlich? An ein Massenbewußtsein, das immer schneller wird? Langsamer werden bedeutet auch, öfter nein zu sagen und die Konsequenzen zu tragen. Ich muß nicht rennen, nur weil alle rennen.

Ab heute entschleunige ich mein Inneres und mein Äußeres. Jede Angst, die in diesem Zusammenhang auftaucht, umarme ich mit meiner Liebe. Ich freue mich schon darauf, das Geschenk der Entschleunigung ganz langsam auszupacken und zu schauen, wie es sich in meinem Leben entfaltet.

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